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Lückenrechtsprechung: Überholvorgang muss jederzeit abgesichert sein

Ein Motorradfahrer, der eine vor einer Ampel wartende Fahrzeugkolonne überholt, ohne dass hierfür eine weitere Fahrtrichtungsspur zur Verfügung steht, verstößt gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot.

Eine Motorradfahrerin befuhr innerorts eine Straße, die für jede Fahrtrichtung nur eine Spur vorsah. Auf ihrer Fahrbahn staute sich der Verkehr auf, woraufhin sie sich entschloss, die Fahrzeugkolonne auf der Gegenfahrbahn zu überholen. Dabei kam es zur Kollision mit einem von rechts kommenden Pkw, der von einem Parkplatz in den fließenden Verkehr einfuhr und hierfür eine für ihn geschaffene Lücke im Stau nutzte.

Nach Ansicht des Landgerichts Tübingen (LG) hat die Motorradfahrerin lediglich Anspruch auf Erstattung des ihr entstandenen Schadens zu 2/3. Die Pkw-Fahrerin hat zwar schuldhaft gehandelt, als sie vom Parkplatz über einen abgesenkten Bordstein nach links durch eine Lücke der Kolonne einfuhr, obwohl ihr die erforderliche Sicht nach links genommen war. Wer durch eine Kolonnenlücke einbiegt, muss schließlich mit überholendem Verkehr auch auf der Gegenfahrbahn rechnen. Jedoch trifft die Motorradfahrerin durchaus ein Mitverschulden, da sie bei unklarer Verkehrslage eine stehende Kolonne überholt hat. Da beide Verkehrsteilnehmer ein Verschulden an dem Zustandekommen des Unfalls trifft, musste eine Abwägung der Verursachungsbeiträge vorgenommen werden. Das Gericht bewertete das Verschulden der Motorradfahrerin mit 1/3.

Hinweis: Das Urteil des LG wendet zutreffend die Grundsätze der sogenannten Lückenrechtsprechung an. Fährt jemand bei dichtem Verkehr an einer zum Stehen gekommenen Fahrzeugkolonne vorbei, muss er trotz Vorfahrt bei erkennbaren Verkehrslücken an Kreuzungen und Einmündungen jederzeit anhalten können. Er muss entweder mit ausreichendem Sicherheitsabstand an der Kolonne vorbeifahren oder eine so geringe Geschwindigkeit einhalten, dass er notfalls vor einem aus der Lücke herausfahrenden Verkehrsteilnehmer stoppen kann.


Quelle: LG Tübingen, Urt. v. 10.12.2013 - 5 O 80/13
zum Thema: Verkehrsrecht

(aus: Ausgabe 12/2014)

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