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Erster Anschein: Nur stichhaltige Beweise können Erfahrungswerte erschüttern

Die Rechtsprechung spricht bei Erfahrungswerten oftmals von dem sogenannten ersten Anschein. Erschüttert wird ein solcher Anscheinsbeweis, wenn die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als dem erfahrungsgemäßen Ablauf besteht. Zweifel an dieser Alternative gehen stets zu Lasten desjenigen, gegen den der erste Anschein spricht.

Eine Pkw-Fahrerin wollte rückwärts auf eine Straße einfahren, um dann diese in Vorwärtsfahrt weiter zu befahren. Hierbei kam es zur Kollision mit einem in der Vorbeifahrt befindlichen Auto. Die Pkw-Fahrerin behauptete, dass sie bereits 20 Sekunden auf der Straße gestanden habe, bevor es zur Kollision kam - der Unfall für sie also unvermeidbar war. Sie verlangte deshalb Schadensersatz von der Haftpflichtversicherung des Unfallgegners, die diesen aber ablehnte.

Das Oberlandesgericht München hat der Pkw-Fahrerin keinen Schadensersatz zugesprochen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Pkw-Fahrerin sowohl gegen § 10 Straßenverkehrsordnung (StVO; Anfahren vom Straßenrand) als auch gegen § 9 StVO (Rückwärtsfahren) verstoßen hat. Beide Vorschriften verlangen die höchsten Sorgfaltsanforderungen und den Ausschluss einer Gefährdung des Straßenverkehrs. Kommt es demnach zum Unfall mit dem bevorrechtigten fließenden Verkehr, spricht danach der Beweis des ersten Anscheins für das Alleinverschulden des rückwärts Ausparkenden. Die Pkw-Fahrerin konnte das Gericht nicht nachhaltig davon überzeugen, dass sie bereits 20 Sekunden nach abgeschlossenem Ausparkvorgang auf der Hauptstraße stand. Vielmehr gingen die Richter davon aus, dass der Ausparkvorgang noch nicht abgeschlossen war. Zudem konnte dem Unfallbeteiligten auch ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalls nicht nachgewiesen werden.

Hinweis: Kommt es in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Ausparkvorgang zu einem Verkehrsunfall, spricht i.d.R. der Beweis des ersten Anscheins für das alleinige Verschulden des Ausparkenden. Er muss den Anscheinsbeweis erschüttern - das heißt beweisen und darlegen, dass ein anderer Geschehensablauf denkbar ist! Ein derartiger Beweis kann durch - vorzugsweise unbeteiligte - Zeugen oder ein Unfallrekonstruktionsgutachten erbracht werden.


Quelle: OLG München, Urt. v. 14.02.2014 - 10 U 2815/13
zum Thema: Verkehrsrecht

(aus: Ausgabe 05/2014)

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